Die Herausforderung für die Mobilität auf dem Land sind enorm: zum einen stehen periphere Räume unter dem Druck des demographischen Wandels, zum anderen muss eine Mobilitäts- und Verkehrswende durchzogen werden, ohne Erreichbarkeiten zu untergraben. Dabei stehen aber Mobilitätsanbieter und Kommunen in diesen Räumen ohnehin unter strenger Haushjaltsführung. Ein guter Grund, um in diesem Kontext nach kostengünstigen Varianten zur Erzeugung von Verkehrsnachfragedaten für eine zukunftsorientierte Planung zu suchen.
In diesem Kontext unterstützt Catchment im Rahmen des Projekts "Residence for MOVERS" die Region Bad Belzig bei der Lösungssuche. Die Ergebnisse werden hier im Blog dargestellt und sollen auch eine praktische Anleitung zum Vorgehen bieten. Das Programm wurde von Smart Village e.V. organisiert und die "Residence" war im Co-Working Space CocoNat in Klein Glien. Ländlicher geht es nicht!
Moderne Verkehrsmodelle basieren auf spezieller Software z. B. von PTV Visum oder der Open Source Lösung MATSim, um umfassende Erkenntnisse über Verkehrsströme zu gewinnen. Vielfach beruhen diese Modelle auf dem Vier-Stufen-Modell, welches weiter unten näher beschrieben wird. Erweiterte Modelle, wie aktivitätsbasierte Ansätze, gehen über das klassische Schema hinaus, indem sie unterschiedliche Personengruppen sowie spezifische Aktivitätspaare – beispielsweise Wohnen-Arbeiten oder Einkaufen-Wohnen – berücksichtigen. Multi-Agenten-Modelle verfeinern diese Ansätze weiter, indem sie synthetische Bevölkerungen mit detaillierten Tagesplänen simulieren. Diese Modelle streben ein Systemgleichgewicht an, welches der realen Verkehrsnachfrage möglichst nahekommt.
Aufgrund der Komplexität unseren kollektiven Mobilitätsverhaltens bleiben die auf dieser Lösung basierenden Methoden weiterhin die Best-Practice, um an gute Verkehrs- und Mobilitätsnachfragedaten zu gelangen. Neue Datenquellen und skalierbare, leistungsfähige IT-Services ermöglichen inzwischen einen anderen Weg, der einen guten ersten Schritt zur Abschätzung der Verkehrsnachfrage darstellen kann. Diese Entwicklung hat das Potential maßgeblich zur Verbesserung von Planungsgrundlagen in sehr kleinen Kommunen, Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen beizutragen. Dies kann als eine Data-Analytics-Neuauflage des klassischen Vierstufenmodells verstanden werden.
Es umfasst dabei die folgenden Schritte, die wir auf Ebene von INSPIRE-1km-Rastergitter durchführen wollen:
Je nach Modellierungsansatz können die Reihenfolge der Schritte variieren oder einzelne Schritte zusammengefasst werden.
...can be fun! Die Abschätzung der Verkehrsnachfrage auf Basis von Bevölkerungs- und Landnutzungsdaten ist Praxisalltag in der Verkehrsmodellierung. Häufig werden sehr spezifische Datengrundlagen für diesen Arbeitsschritt herangezogen. Für das Residence-Programm wurden Zensus-Bevölkerungsdaten und CORINE-Landcover Daten genutzt.
Bei den Bevölkerungsdaten ist der Zusammenhang richtig bildlich: wenn jemand am Morgen daheim aufwacht, wird sie sich zu 80% Wahrscheinlichkeit vom Wohnort wegbewegen.
Dann werden ein paar Aktivitäten erledigt und es wird der Heimweg angetreten. Was ist aber mit den ganzen anderen Aktivitäten dazwischen? Für eine schnelle Lösung, kann man Schätzwerte für die verschiedenen Landnutzungsformen ansetzten. Zwar ändern diese Werte sich von Fall zu Fall erheblich, jedoch ist das schöne hier, dass zumindest ein europaweit einheitlicher Datensatz genommen werden kann. Insbesondere für kleinere, ländliche Teilräume können dann diese Landnutzungsparameter für die Kalibrierung genutzt werden. Am Anfang erstmal, um in der Nachfrageerzeugung die 3,1 Wege pro Person aus der MiD 2017 Erhebung anzupeilen.
Will man ganz ortsspezifische Nachfrage mit einbinden, so eignet sich die Einbindung von OSM-POI-Daten, die als weitere Open Data Quelle überregional mehr oder weniger einheitlich vorliegt. Für kleinere Regionen können so über die POI-Tabellen schnell spezifische Aufkommensdaten z.B. für Schulen, Fabriken oder Einkaufszentren eingetragen werden. Oder es werden einfach global Festwerte für die verschiedenen POI-Typen festgelegt. Entsprechend den Angaben sollten allerdings dann die Landnutzungsparameter nochmal korrigiert werden.
PS: wenn einem etwas Komisches in den OSM-Daten auffällt, dann kann man diese ja bekanntlich auch selber aktualisieren.
Mit der Verkehrsverteilung kommt die Komplexität: wenn man ein Gebiet von 100 mal 100 km nimmt, dann kommt man auf 10000 Zellen im INSPIRE-Grid und somit auf potentiell 100 Millionen Quell-Ziel-Relationen. Hier wird schnell klar, dass man in die Berechnungen nur das nötigste reinbringt. Bei kleineren, ländlichen Teilräumen können das am Ende alle Zellen mit einer Nachfrage oder über einer gewissen Nachfrageschwelle sein. Da auch um Bad Belzig viel "Nichts" gibt, haben wir auch hier alle Zellen mit Nachfrage herangezogen. Der Nachfrageteil des Modells wird mit einem einfachen Gravitationsmodell berechnet, der die Nachfragekomponenten der Quell- und Ziel-Zelle vermengt und erstmal in Relation zur Luftliniendistanz setzt.
Wenn jetzt die besten Routen für die Nachfrage von den Quell-Ziel-Relationen gesucht werden, spricht man von der Umlegung. Hier leisten die Verkehrsmodellierungslösungen von PTV oder MATsim einiges, denn in Iterationen wird die Nachfrage auf das Verkehrsnetz geroutet, um zu simulieren, wie sich die Nachfrage bei steigendem Aufkommen verteilt. Ist die Wartezeit an einem Knoten zu hoch, wird eine alternative Strecke gewählt. Da wir ja ein einfaches Work-Around zur pragmatischen Nachfrageerstellung suchen, gehen wir diesen Weg nicht, sondern nutzen massenhafte Aufrufe von Routing-APIs von Google, Here und Azure bei denen insbesondere für den Autoverkehr gewisse Aufkommenseffekte schon inherent vorliegen.
Hier werden die ersten drei Alternativen der Quell-Ziel-Verbindungen für die verschiedenen Verkehrsträger abgespeichert. Für diesen Schritt wird ggf. nur ein gewichtetes Sample der Quell-Ziel-Relationen genommen z.B. 10%. Im Rahmen der Projektarbeit im Residence for Movers-Programm haben wir sogar erstmal ganz auf Nachfrageeffekte bei der Routenwahl verzichtet und einen Open-Trip-Planner Server aufgesetzt - auch um den Open-Source-Aspect des Programms zu unterstreichen.
Wenn in der Region Bad Belzig der Wunsch nach Verkehrsnachfragedaten vorliegt, kann dieser Weg ein gangbarer sein, um Aufkommensschätzwerte zu erhalten. Weitere Schritte die bei noch offen sind: