Berlin, Juli 2023. Autor: Benno Bock
Während COVID konnten wir das eindrücklich beobachten: In den Jahren 2020-22 hat der Verkehrsträger „Fahrrad“ ordentlichen Rückenwind erfahren. Der Fahrrad-Monitor 2020 vermeldete, dass 25% der Menschen in Deutschland im Juni 2020 deutlich bzw. etwas häufiger Rad fahren als im Vorjahr. Das belegen auch Daten, die über Fitness-Apps wie Strava geteilt wurden. Sie zeigen einen enormen Anstieg des Radverkehrs in den COVID-Jahren. Das Potenzial erscheint noch größer: Die Nachfrage nach Fahrrädern stieg in 2020 um fast 10%.
Wer in dieser Zeit versuchte, ein neues Rad zu kaufen, musste sich auf Wartezeiten von bis zu einem Jahr einstellen - bedingt durch hohe Nachfrage, aber auch Lieferengpässe von Einzelteilen. Motive für das „Umsatteln“ gab es zahlreich: frische Luft und einen 1,5-Meter-Abstand gab es auf dem Drahtesel inklusive, Freizeitaktivitäten waren nur eingeschränkt möglich, Gesundheit war ein akutes Thema. Das Fahrrad wurde für kurze notwendige, aber auch für Freizeitzwecke signifikant häufiger genutzt.
Unbestritten also hat die Pandemie dem Verkehrsträger „Fahrrad“ viele Mehr- und Neunutzer beschert. Die Frage aber ist: Sitzen die passionierten Radler der 2020/21er auch heute noch fest im Sattel? Und inwiefern leistet eine progressive Radpolitik in diesen Städten einen Beitrag, das Fahrrad auch post-COVID attraktiv für Verkehrswege und Freizeit zu machen?
Werfen wir hierzu einen Blick auf die aktuellen Daten mit Fokus auf deutsche Großstädte. Für unsere Betrachtung legen wir die Verkehrsmittelanteile von Google sowie die Indexwerte des ADFC-Fahrradklimatests zugrunde.
Dieser Blick in die Google-Daten für Fahrradanteil im sogenannten Modal-Split der 40 Großstädte in Deutschland offenbart: Die Fahrradnutzung hat im Durchschnitt auch nach Covid (2022-heute) gegenüber den vor-COVID-Jahren (2018 und 2019) zugenommen.
Besonders positiv verlief diese Entwicklung in Städten, die vor COVID Rad-infrastrukturell einiges an Nachholbedarf hatten, wie z.B. Köln, Wuppertal, Stuttgart oder Dortmund. Diese positive Entwicklung des Fahrradanteils im Modal Split im Vergleichszeitraum bestätigt auch eine Haushaltsbefragung der Stadt Köln in beeindruckender Deutlichkeit: Gemäß dieser Studie hat der "Anteil des Radverkehrs seit 2017 um 7 %-Punkte auf jetzt 25%“ zugenommen. Damit werden „das Fahrrad inzwischen genauso häufig genutzt, wie das Auto".
Diese Effektstärke lässt sich in den Google-Daten zwar nicht finden, der Trend aber wird bestätigt: Laut Google-NutzerInnendaten stieg der Radverkehrsanteil von circa 7,1% in 2018 auf 8,7% im Jahr 2022, was einem Zuwachs von 1,6 Prozentpunkten bzw. relativ gesprochen von 22% entspricht. Einen rückläufigen Fahrrad-Trend in diesem Vergleichszeitraum weisen markanterweise nur die sächsische Großstädte Dresden, Leipzig und Chemnitz auf.
Zunächst zu den Gemeinsamkeiten: Für alle betrachteten Städte zeigen die Graphen einen Radanteilboom für das Jahr 2020. Für einige Städte sind die Steigerungen größer („Sprünge“), für andere kleiner. Schließen wir nun das Jahr 2021 in die Betrachtung ein, zeichnen sich dann aber doch unterschiedliche Entwicklungen ab, die sich in zwei Typenklassen einteilen lassen:
Typ 1: Aufwärts im Zick-Zack
Städte mit geringem Radanteil (< 6%, Krefeld mit 8,6%) in 2018 erreichen tendentiell auch 2022 Steigerungen ggü. dem Vorjahr.
Typ 2: Corona-Peak
Die Städte zeigen einen Peak im Radfahranteil in 2020 und 2021, derweil der Anteil in 2022 ggü. 2021 wiederum abnehmend ist.
Typ 3: Typ „Münster“
Münster ist im Radverkehr einfach einzigartig und zeigt eine konstant hohe Nachfrage, daher widmen wir der Stadt hier auch eine eigene Kategorie.>
Detailbetrachtung der Entwicklung des Fahrradanteils 2018-2022
(2018 indexiert auf 1)
Der Typ „Zick-Zack“ findet sich vor allem „tief im Westen“ – der Pott (Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Oberhausen), Bergisches Land (Wuppertal) sowie Bielefeld, Kassel, Krefeld und Mönchengladbach lassen sich diesem Typ zuordnen. Laut Google-Daten zeichneten sich diese Städte vor Covid (2018/19) dadurch aus, dass hier Fahrräder selten aus dem Keller geholt wurden (Modal-Split-Anteile < 6%). In Wuppertal konnten wir den Tiefstwert vermelden: 1,5% Radanteil 2018. In 2020 steigt der Radanteil, derweil er in 2021 wieder leicht sank. Für Städte diese Typen können wir aber erfreulicherweise sagen: nach der Pandemie 2022 bleibt trotz Schwankungen ein Netto-Plus im Radanteil übrig. Die Nutzung des Rads ist 2022 gemessen am Anteilswert 2018 um 20% bis 60% gestiegen; in Wuppertal sogar um über 70%.
Über die Gründe für diesen Zick-Zack-Kurs mit 2022-Werten über Vor-Corona-Niveau können wir nur spekulieren. Ein Zusammenhang zwischen positivem Radklima einerseits und hohen Radnutzungsanteilen andererseits (zum Beispiel durch Gegenüberstellung der Google-Daten mit dem ADFC-Radklimaindex) scheint jedenfalls nicht ursächlich: Wiederum fallen in die Zick-Zack-Kategorie Städte, die gemeinhin nicht als besonders fahrradfreundlich gelten. Diese „Nachholstädte“ haben nach wie vor ein recht schlechtes Radfahrklima, aber trotzdem überdurchschnittliche Zuwächse im Radanteil in der Betrachtungsperiode verzeichnen können.
Fahrradanteil Modal-Split 2022 im Vergleich zum ADFC-Radklimaindex
Entwicklung des Fahrradanteils 2018-2022 im Vergleich zum ADFC-Radklimaindex
Bei den COVID-Peak Städten muss man auf Basis der Google-Daten resümieren, dass die Zugewinne während der Pandemie nicht aufrecht erhalten werden konnte. Es wäre lohnenswert sich diese Entwicklung im Detail anzuschauen, denn es betrifft fast alle großen Städte. Dieser Trend dürfte sich durch die weniger progressive Radverkehrspolitik mancher Städte, Beispielsweise zuletzt in Berlin, verschärfen. Münster bleibt einfach auf einem hohen Niveau. Gefühlt kann die Welt untergehen und an den plus-minus 20% in der Fahrradhauptstadt Deutschlands ändert sich nicht viel. Aber auch diese Beobachtung ist bemerkenswert, denn man hätte sich ja auch vorstellen können, dass in dieser Stadt, in der der Verkehrsträger Rad so etabliert ist, die Pandemie auch noch zu weitere Anteilsgewinne on top führen könnte.
Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass insbesondere in den Städten, in denen das Rad zuvor mehrheitlich als Mobilitäts-“alternative“ in Vergessenheit geraten ist, durch die Pandemie neuen Aufschwung erfahren hat. Angesichts der vermeintlich unabhängigen Entwicklung von den Rahmenbedingungen in den Kommunen könnte man etwas polemisch sagen, dass Maßnahmen wie Ausbau Infrastruktur und Radverkehrsnetz oder Verbesserung der Sicherheit und des Komforts (alles Befragungskategorien des ADFCs für seinen Radklimaindex) nicht so dringlich seien. Der Umkehrschluss ist aber wahr: Der Handlungsbedarf bei den Städten des Zick-Zack-Typs ist umso stärker, laufen sie doch Gefahr, in zwei bis drei Jahren in Sachen Radanteil wieder auf Vor-Corona-Niveau zu rutschen. Das wäre fatal in Zeiten, in denen Kommunen ihre Klimaziele insbesondere im Verkehr zu verfehlen drohen.
Die Daten wurden für die 40 wichtigsten deutsche Städte über fünf Jahre hinweg erfasst.